Mittwoch, 27. April 2005

Marktradikale drehen durch

Kaum wagt es der SPD-Vorsitzende Müntefering mal, einige besonders üble Auswüchse des Kapitalismus zu kritisieren, drehen einige Marktradikale gleich vollkommen durch und rufen wie nun Wolfgang Münchau in einer Kolumne für die Financial Times Deutschland den Bürgerkrieg aus. Dann wird Kapitalismuskritik gleich noch in einen Topf mit Antisemitismus und Antiamerikanismus geworfen und einmal kräftig umgerührt. (Hallo, aufwachen: Kapitalismus ist nur ein Wirtschaftssystem, keine Gruppe von Menschen.)
Müntefering hat ja nun wirklich nichts gesagt, was nicht jeder außer einigen vollkommen abgebrühten Zynikern unterschreiben würde. So hat auch Porsche-Chef Wiedeking geäußert, dass wenn der Papst etwas ähnliches sagen würde, alle feuchte Augen bekämen und ihm zujubelten.

Aber Müntefering hat die längst überfällige Debatte zum Verhältnis zwischen Demokratie und wirtschaftlicher Macht eröffnet und damit ein Tabu gebrochen. Es stellt sich nämlich tatsächlich die Frage, ob die Menschen dem Kapital zu dienen haben oder umgekehrt. Das Grundgesetz gibt nur eine "soziale Marktwirtschaft" vor, wobei Eigentum zum Wohle der Allgemeinheit genutzt werden muss. Einen absoluten Eigentumsbegriff mit dem Rang eines freiheitlichen Grundrechtes gibt es also in Deutschland nicht. (Auch für den liberalen politischen Philosophen schlechthin, John Rawls, zählte Eigentum nie zu den Menschenrechten.)

Begriffe wie "sozial" und "Allgemeinwohl" können jedoch ganz verschieden ausgelegt werden, so dass das Grundgesetz ziemlich viele Möglichkeiten irgendwo oberhalb von Manchester-Kapitalismus bis einschließlich eines demokratischem Sozialismus zulässt.

Die Marktradikalen hatten schon geglaubt, dass diese Frage in der öffentlichen Meinung endgültig zu Gunsten des Minimalstaates entschieden sei, und die Mehrheit fast alles dem freien Spiel der privatwirtschaftlichen Kräfte überlassen wolle. Demokratie heißt aber, dass alle Macht vom Volke ausgeht. Und zur Überraschung (und zum Zorn) der Marktjünger hat dieses inzwischen gemerkt, dass die globalisierten Märkte keinesfalls alles zur allgemeinen Zufriedenheit lösen, sondern einige Wenige begünstigen und viele sogar benachteiligen. (Was waren das noch für Zeiten, als man immer noch ein Postamt in Fußnähe hatte.)

Was Marktradikale wie Münchau nicht begreifen (wollen) ist, dass es in der Politik letzlich immer auf die Frage des "cui bono" hinausläuft, also wem nützt oder schadet etwas. Wenn die Mehrheit der Menschen den Nutzen von immer mehr Markt und immer weniger Staat nicht erkennen kann (weil es da nicht viel zu erkennen gibt), so kann ein gesellschaftlicher Konsens für weniger Kapitalismus entstehen.

Wenn Münchau und andere Marktjünger Demokraten wären, würden sie einen solchen gesellschaftlichen Konsens akzeptieren anstatt den Bürgerkrieg auszurufen. Aber das ist wohl zu viel erwartet.
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